Rezension: Wovon wir träumen

Ein Gefühl der Fremdheit

„Wovon wir träumen“, vom Piper Verlag als Roman publiziert, kann wie ein Band im klassischen China von hinten nach vorn gelesen werden. Unter der Überschrift „Anfang“ beendet die Autorin Lin Hierse ihre Gedanken und Erinnerungen, während die ersten Seiten des Buchs unter dem Thema „Abschied“ beginnen. Hier nimmt uns die Autorin mit nach China, zu der Trauerfeier für die chinesische Großmutter Abu. Gemeinsam mit der zahlreichen Verwandtschaft geht die Reise im gemieteten Bus von Shanghai aus nach Shaoxing, einer einst malerischen Kleinstadt südlich von Hangzhou. Aus der flirrenden Metropole am Ufer des Yangzi und ihren miteinander um die Höhe wetteifernden Hochhäusern, den sich über und untereinander kreuzenden Schnellstraßen und der modisch westlichen Großstadtjugend.

Auf der langen Fahrt kann Lin den Erinnerungen an die Besuche bei ihren Cousins und Cousinen, den zahlreichen Onkeln und Tanten nachhängen, als sie in der Kindheit mit ihrer Mutter aus Deutschland angereist war. Für die Mutter, die Shaoxing verlassen hatte, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen, war jeder Besuch ein erneuter Abschied. Eine Rückkehr dorthin, wo sie ihre Träume verwirklichen wollte.

Dieses Leben schildert die Autorin in immer anderen Facetten und aus anderem Blickwinkel. Rätselt über das besondere Verhältnis von Mutter und Tochter (und umgekehrt), aus dem es keine Flucht gibt. Hierse erkundet ihr eigenes Leben, das in Deutschland von einem unbestimmten Gefühl der Fremdheit geprägt ist. Ebenso wie ihre Mutter die Erinnerungen an das Leben in China stets mit sich trägt, fühlt die Tochter doppelt an dem Fremdsein. Sie fragt sich, welchen Namen die Mutter ihr gegeben hat. Es ist kein poetischer Name wie bei ihren Tanten. Sie tragen alle – wie die Mutter – das Zeichen Mond im Vornamen. Ihrer klingt eher pragmatisch schlicht, für die deutschen Behörden ausgewählt, vermutet sie.

In ihren Erinnerungen sucht Lin Hierse, 1990 in Deutschland geboren als Tochter einer deutsch-chinesischen Ehe, nach einem eigenen Platz und einer eigenen Identität zwischen den verschiedenen Welten. Sie hat in Braunschweig Asienwissenschaften studiert und streut in ihrem Text ab und an Redewendungen in Chinesisch ein. Seit 2019 arbeitet sie als Redakteurin bei der „tageszeitung“ (taz), wo sie in ihrer Kolumne „Poetical Correctness“ zu aktuellen Ereignissen Stellung bezieht. So durchziehen die autobiografisch fiktionalisierten Erinnerungen auch verschiedene Erfahrungen und Begegnungen aus dem deutsch-chinesischen Alltag. Mit „Wovon wir träumen“ hat Lin (und vielleicht mit dem Zeichen der weißen Jade im Vornamen) sich nicht nur auf den Weg zu dem Mutter-Tochter-Verhältnis begeben, sondern auch der chinesischen Community in Deutschland eine junge, poetische Stimme verliehen.

Dagmar Yu-Dembski

Lin Hierse: Wovon wir träumen

Wovon wir träumen. Roman
Lin Hierse
Piper Verlag (2022)
240 Seiten, 18,00 €