Berlinale 2022: Eine Hommage an den Kinofilm
Eigentlich hatte ich vor, eine Besprechung des chinesischen Films „Return of Dust“ (Yin ru chen yan), der im Wettbewerb der Berlinale 2022 lief, zu schreiben. Doch die Geschichte des Scheiterns, eine Kinokarte zu kaufen, ist mindestens so lang wie der Film (131 Minuten) von Li Ruijun. Um es kurz zu machen: In diesem Jahr konnten Tickets für die Berlinale-Beiträge nur online gekauft werden, jeweils zwei Stück pro Person und immer ab Punkt zehn Uhr morgens. Bereits gefühlte eine Minute später meldete das Programm „ausverkauft“. War ich zumindest zu dem Punkt von zwei Kinokarten gelangt, fehlte mir das Passwort für den Online-Organisator . Mit dem Hinweis auf „Neukunde“ erfuhr ich, dass ich bereits Kundin des Dienstes gewesen sei. Wann nur?
Es gab aber noch die Chance auf „Passwort vergessen“, das ich auf diesem Weg über meinen E-Mail-Account erhalten könne. Inzwischen waren die Karten für den erwünschten Film bereits „ausverkauft“. Neuer Anlauf am nächsten Tag. Neues Passwort eingeben, mindestens acht Zeichen, davon Groß- und Kleinschreibung, Sonderzeichen, Zahlen. Alles gut. Kreditkartenangabe erfolgt. Zur Sicherheit nur noch das Passwort der Bank. Habe ich nicht, da kein Onlinebanking. Versuche, über eine der teilnehmenden Kinokassen oder die klassischen Theaterkassen, nicht möglich. Was bleibt? „Fragen Sie doch Freunde, die für Sie buchen können!“ Chinesische Freunde raten mir von einem Kinobesuch in Corona-Zeit eher ab. Na ja, sie helfen natürlich. Nur waren die letzten Termine für die beiden erwünschten Filme zeitlich so dicht (Beginn: 15 Uhr, Beginn 17 Uhr), dass ich mich entscheiden musste. Also endlich zwei Karten im Berlinale Palast. Danke, meine Freunde!
So Seoul ga ui yeong hwa – The Novelist’s Film
Dieser Film, den ich im Berlinale-Palast vom 1. Rang aus sehen konnte, hat mich mit der Berlinale wieder versöhnt. Als der koreanische Wettbewerbsbeitrag über die gesamte Breite der Leinwand erscheint, verstehe ich, warum Film das Kino braucht. Der koreanische Regisseur Hong Sang-soo erzählt seine Geschichte im klassischen Schwarz-Weiß. Sie beginnt an einem kleinen Buchladen in einer ruhigen Gegend, irgendwo in Seoul außerhalb des Zentrums. Ehe die Schriftstellerin Junhee hineingeht, sind drinnen zwei Frauenstimmen zu hören. Sie scheinen zu streiten. Es bleibt unklar, um was es geht. Doch die Stimmen hinter der Ladentür setzen Bildergeschichten in Gang.
Aus der Tür tritt die Besitzerin des Ladens heraus. Sie hat ihre Freundin Junhee lange nicht gesehen. Hinter dem freundlichen Small Talk bleibt unklar, was der Grund des langen Schweigens war. Während Junhee (Lee Hyeyoung) eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist, hat ihre Freundin das Schreiben aufgegeben und den Laden eröffnet. Während das Gespräch merkwürdig stockend vorangeht, lassen Mimik und Gestik hinter dem belanglosen Geplauder ein Zerwürfnis ahnen.
Junhee will ihre alte Gegend wieder besuchen. Auf dem Weg trifft sie die Frau eines bekannten Regisseurs. Auch bei der zufälligen Begegnung mit ihm verbirgt sich ein kaum verhohlener Konflikt. Er hatte vor einiger Zeit ein Drehbuch von Junhee abgelehnt. Nun sucht er nach Erklärungen: der Produzent, der Erfolgsdruck als Filmemacher… Während der Regisseur sich immer mehr in seinen Entschuldigungen verstrickt, begegnen sie beim Weitergehen im Park der jungen Schauspielerin Kilsoo, die sich seit einiger Zeit ganz aus der Welt des Films zurückgezogen hat; der zunehmenden Vereinnahmung als Darstellerin und der Kommerzialisierung des Kinos.
Beide Frauen verstehen sich ohne viele Worte. Sie vertrauen sich ihre Geheimnisse an, und Junhee plant gemeinsam mit ihr einen Film. Nichts Dokumentarisches, einen Film, der sich erst noch entwickeln muss: über die Schönheit des Lebens. Frei vom Druck filmischer Kunsterwartungen.
Vielleicht denkt Junhee dabei an die Filmstudentin, die im Buchladen als Aushilfe arbeitet, von der sie sich die Gebärdensprache zeigen lässt. Auch das Kino verwandelt Sprache in Bilder. Der Kurzfilm, der tatsächlich entsteht, hat die Schriftstellerin von ihren Schreibblockaden befreit und Kilsoo (Kim Minhee) wieder der Welt des Films nahegebracht. Das Wunder filmischer Bilderwelt, das im letzten Bild auf der Leinwand erscheint, wird übrigens nicht verraten.
Mit „The Novelist’s Film“ ist dem koreanischen Regisseur Hong Sang-soo ein Film über zufällige Begegnungen und die Schönheit des realen Lebens gelungen, der zu Recht mit dem Silbernen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Auf dem Weg mit den anderen Kinobesuchern die Treppen des Berlinale-Palastes hinunter, ist es wie in all den Jahren der Berlinale. Gedankenverloren hängen wir den Bildern nach, während wir aus dem Kino schlendern und beginnen, die Geschichten zu ordnen.
Vor dem Eingang wartet bereits eine lange Schlange von Besuchern auf den nächsten Film. Wer hat eigentlich behauptet, wie gut es sei, in diesen Zeiten nicht für Tickets anstehen zu müssen? Manchmal reicht es, nur einen einzigen Film zu sehen. Ein Film in Originalsprache mit Untertiteln in Englisch und Deutsch, der zwar ausgezeichnet wurde, der aber leider bei uns wohl nicht im Kino zu sehen sein wird.
In der Hitze der Nacht – „Are you loneseome tonight?“
Es ist Zufall, ein unglücklicher Zufall. Xueming ist auf dem Weg ins Kino. Seine Freundin hat Tickets besorgt. Wenn er wieder mal zu spät kommt, wird sie seine Karte zurückgeben. Und nun hockt mitten auf der Straße ein stures Rindvieh, das sich keinen Zentimeter fortbewegt. Der Fahrer muss voran machen. Widerwillig nimmt er einen Umweg, fährt mit seinem Van eine menschenleere Straße am Ufer eines Kanals entlang. Ringsum Dunkelheit und Stille. Undeutlich ist eine Radiostimme aus dem Wagen zu hören. Xueming greift nach einer Zigarette und seinem Feuerzeug. Ein Knall, ein dumpfer Stoß und sein Kopf prallt mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe. Im grellen Licht der Scheinwerfer liegt gekrümmt ein toter Mann auf dem Boden.
So lässt der chinesische Regisseur Wen Shipei seinen Film „Are you loneseome tonight?“ beginnen. Erzählt wird eine Geschichte, die unweigerlich ins Verderben führt. Sie kreist um Schuld, Verbrechen und Verlorenheit. Mit seinem Debütfilm führt uns der Filmemacher in die tropischen Nächte der 1990er-Jahre, nach Südchina an der Grenze zu Hongkong. In der gekonnten Mischung aus amerikanischem Gangsterfilm und düster-rätselhaftem Film noir werden alle Motive des typischen Thrillers miteinander verwoben. Es geht um Raub, Erpressung, Verfolgung, Rache und – die Einsamkeit des Protagonisten.
Wie bei einem unvollständigen Puzzle umkreist Xueming (Eddie Peng) seine Erinnerungen an den Unfall und dessen Folgen. Als er durch Zufall die Witwe (herausragend: die taiwanesische Schauspielerin Sylvia Chang) des Toten trifft, sucht er wie in einer Amour fou ihre Nähe. Mehrmals möchte er seine Schuld eingestehen und hofft auf Vergebung. Die Suche nach der Wahrheit führt ihn immer tiefer in den Dschungel der Stadt, in die urbane Verbrecherwelt mit den undurchsichtigen Etablissements und deren dunkler Geschäftigkeit.
Es ist weniger die Story, die „Are you lonesome tonight?“ trägt. Vielmehr besticht der Film durch seine düstere Bildästhetik, wenn die Kamera Xueming durch endlos scheinende, verdreckte Gänge und verwinkelte Straßen führt, in denen nur die flackernden Neonlichter Verbrecher, Verfolger und Verfolgte als Konturen erkennen lassen. In der flirrenden Hitze des Südens verfließen die Figuren und Charaktere; surreale Bilder überdecken eine widersprüchliche Realität. Zurück bleiben verschwommene Erinnerungsfetzen und ein visuell bestechender Film. (Der Film ist noch in ausgewählten Berliner Kinos zu sehen.)
Dagmar Yu-Dembksi
Berlinale 2020: In diesen Zeiten …
Die diesjährigen 70.
Internationalen Filmfestspiele
fanden unter neuer
künstlerischer und
organisatorischer Leitung
(Carlo Chatrian und Mariette
Rissenbeek) statt und standen
daher bereits im Vorfeld unter
besonderer Beobachtung. Die
Bedingungen für das neue Team
waren alles andere als günstig:
Mehrere Spielstätten und
Veranstaltungsorte konnten
nicht genutzt werden, der
Presseraum war anderweitig
vermietet, langjährige
Sponsoren hatten gewechselt und
die Rolle Bauers in der NS-Zeit
führten zu Diskussionen über
die Geschichte der
Berlinale.
Diskutiert wurde natürlich über
die Auswahl der Beiträge im
Wettbewerb, die thematisch
insgesamt sehr düster
ausfielen. Dieser Kritik
begegnete Mariette Rissenbeek
mit der Erklärung, dass Film
nun mal Teile der
gesellschaftlichen Realität
abbilde. Die Auswahl im
Wettbewerb wurde zudem von
europäischen Beiträgen
(italienischen) und
Ko-Produktionen bestimmt,
daneben gab es lediglich einen
Film aus Taiwan („Rizi“, Days
von Tsai Ming-Liang) und den
koreanischen Beitrag (The Woman
Who Ran – offenbar im Kontext
der Oscar-Prämierung von
„Parasite“).
So fand ein Teil der
interessanten Produktionen in
den anderen Sektionen wie auch
der neu eingerichteten Sektion
„Encounters“ statt. Auch hier
gab es nur wenige Filme aus
China. Nach Auskunft der
chinesischen Filmindustrie
konnte ein Teil der Werke, die
traditionell zum Neujahrsfest
erscheinen, wegen des
Corona-Virus und den damit
verbundenen wirtschaftlichen
Folgen nicht rechtzeitig
fertiggestellt werden. So
richtete sich der Blick auf all
die Produktionen, die meist nur
geringe Chancen auf ein
größeres Publikum erhalten und
mit Glück im Fernsehprogramm
der Dritten gesendet werden.
Vermutlich so wie „Schwarze
Milch“ (Black Milk).
Leben zwischen den Kulturen
Der Film erzählt von zwei
Schwestern, die in
unterschiedlichen Welten
aufgewachsen sind und die mit
den – wie ich finde –
peinlichen Namen Wessi und Ossi
benannt wurden. Die ältere lebt
seit Jahren im Westen, in einer
deutschen Großstadt. Sie ist
mit einem Deutschen liiert und
möchte nach Jahren ihre
Schwester in der mongolischen
Steppe besuchen. Bei ihrer
Ankunft wird sie wie die
verlorene Tochter vom Vater mit
einem großen Fest mit der
ganzen Familie und allen
Nachbarn in der Jurte
willkommen geheißen. Es wird
gegessen und getrunken, gelacht
und geredet.
Bald entdeckt Wessi allerdings,
dass ihre Vorstellungen von
ungezwungener Freiheit in den
Weiten der Steppe keineswegs
der Realität entsprechen. Das
Leben ihrer Schwester bedeutet
harte körperliche Arbeit, und
eine traditionelle Männerwelt
grenzt ein freiheitliches Leben
für Frauen ein. Während die
eine von ägyptischen Königinnen
erzählt, die sich für ihre
Schönheit in Ziegenmilch baden,
zeigt ihr die andere den Alltag
beim Holzhacken und dass Tiere
erst geschlachtet werden
müssen, ehe man das Fleisch
essen kann. Auch Wessis
erotische Beziehung zu einem
mysteriösen alleinstehenden
Nomaden, der außerhalb der
traditionellen Normen zu leben
scheint, scheitert an den Tabus
einer in sich geschlossenen
Gemeinschaft. Als sie erkennt,
dass sie sich niemals dieser
tabuisierten Traditionen
entziehen kann, kehrt sie dem
mongolischen Leben den Rücken
und reist in die westliche
Heimat zurück.
Die halb-autobiografische Story
basiert auf Erfahrungen der
1984 in der Mongolei geborenen
Regisseurin Uisenma Borchu. Mit
vier Jahren kam sie mit ihrer
Familie in die DDR. Sie
studierte zunächst Sprachen in
Mainz und danach an der HFF
München Dokumentarfilm. „Black
Milk“ zeigt: In beiden Welten
sind individuelle Freiheiten
von Frauen eingeschränkt. Für
ein selbstbestimmtes Leben –
auch der deutsche Freund
entscheidet über das gemeinsame
Zusammensein – gibt es enge
Grenzen.
In Traditionen gefangen
Der von Ray Yeung in Hongkong gedrehte Beitrag „Suk Suk“ erzählt von der späten Liebe zwischen zwei älteren Männern, deren Alltag vom Leben in ihren Familien bestimmt ist. Die Tage vergehen in der üblichen Routine. Nun arbeiten sie nicht mehr und haben viel Zeit. Sie gehen spazieren und entdecken ihre lange Jahre verdeckten sexuellen Wünsche und Gefühle.
Die Story des Films basiert
auf einer Sammlung von
Interviews mit Hongkongern, die
in den 1960er- bis
1980er-Jahren ihre
Homosexualität hinter der
Fassade bürgerlicher Familien
verbergen mussten. Ausgehend
von diesem dokumentarischen
Material porträtiert der
Regisseur zwei Männer, die sich
nach einem arbeitsreichen Leben
– einer war Taxifahrer – aus
der Normalität des
Familienlebens langsam
aufeinander zu bewegen. Die
„Großväter“ wollen sich ihrem
Wunsch nach intimer Nähe nicht
entziehen. So wird ein Badehaus
der heimliche Treffpunkt. Doch
immer wieder schrecken sie in
ihrem neuen Leben voller
Heimlichkeit, innerer Kämpfe
und schlechtem Gewissen ihren
Familien gegenüber vor den
Folgen zurück.
Der fast dokumentarische Film
wurde in nur 21 Tagen mit einem
Etat von lediglich 1 Mio.
Dollar gedreht. Ray Yeung,
Drehbuchautor und Regisseur,
enthält sich jeder moralischen
Vorgabe und überlässt es den
Zuschauern, das Verhalten der
Männer zu beurteilen. Aus
heutiger Sicht (und für ein
westliches Publikum) ist die
Zurückhaltung und
verständnisvolle Rücksichtnahme
der beiden Protagonisten
gegenüber den repressiven
Familienstrukturen nicht leicht
nachzuvollziehen. Zu
konventionell ist der
Ausbruchsversuch der beiden
„Großväter“ filmisch umgesetzt.
Leider fehlt dem in Hongkong
bis heute brisanten Thema eine
mutige Bildwelt.
Suche nach friedlichen Gestaden
Gefördert vom anerkannten Regisseur und Produzenten Jia Zhang-ke sowie der Pekinger Huanxi Medien Produktion stellte die junge Filmemacherin Song Fang ihren jüngsten Beitrag in der Sektion Forum vor. Song studierte in Belgien und an der Pekinger Filmakademie und hat sich 2009 mit ihrem Kurzfilm „Gao bie“ (Good-bye) in Cannes einen Namen gemacht. Ihr Spielfilm „Ping jing“ (平静, The Calming) besticht mit ihrer ruhig dahinfließenden Erzählstruktur, die uns mit der Protagonistin von Peking nach Tokio, Nanjing und Hongkong bringt. Lin ist eine Dokumentarfilmerin in den frühen Dreißigern. Nach der offenbar schmerzlichen Trennung von ihrem langjährigen Freund versucht sie ihre erstarrte Gefühlswelt durch ständiges Herumreisen wiederherzustellen.
In langen, extrem ruhigen
Kameraeinstellungen begleiten
wir die Protagonistin
(Darstellerin Qi Xi), durch das
Vergehen der Jahreszeiten. Aus
dem in Schnee erstarrten Tokio,
wo sie an einem Filmfestival
teilnimmt, kehrt sie nach
Peking in eine neue Wohnung
zurück. Auch hier ist sie in
Stille und Einsamkeit gefangen,
fährt zu ihrem erkrankten Vater
nach Nanjing und besucht eine
alte Freundin. Im Sommer reist
sie nach Hongkong, wo sie im
üppigen Grün der Inselwelt Ruhe
sucht. Wie die zarten Verse
eines langen Poems klingen ihre
Gedanken. Es ist die Hoffnung
nach einem friedlichen Ort –
„convey me to a peaceful shore“
– , an dem sie innerlich Ruhe
finden kann. Dort wird sie sich
ihre Einsamkeit und
Verlassenheit eingestehen. Sie
muss sich nicht mehr hinter
nichtssagenden Gesprächen
verstecken.
Kleiner Nachtrag: Während der
Berlinale kam mir der Film ein
bisschen manieriert vor. In
diesen Zeiten erscheint mir das
Thema von Einsamkeit und Stille
nun in einem ganz neuen
Licht.
Auch in „Rizi“ (einer Produktion aus Taiwan) von Tsai Ming-Liang geht es um Einsamkeit. Der 1957 in Malaysia geborene Filmemacher, Theaterautor und Bildende Künstler hat seit den 1990er-Jahren mehrfach seine Arbeiten auf der Berlinale präsentiert. Bekannt wurde er mit Werken wie „Rebels of the Neon God“ und „The River“ (Silberner Bär 1997) oder „Xi You“ (Reise in den Westen, 2014). In seinem jüngsten Werk, das fast ganz ohne Dialoge auskommt, treffen zwei in ihrem Schmerz gefangene, entwurzelte Männer in einem Hotelzimmer aufeinander. In den unendlich langen Bildern bleibt die Einsamkeit zwischen Kang (Lee Kang-Sheng) und Non gefangen. Als Zuschauer erahnen wir in diesen vom Licht der Kamera eingefangenen Gesichtern nur ein Stück dieses Schmerzes, der für eine kurze Begegnung eine eigene Realität jenseits des Alltags erhält.
Blick zurück ohne Zorn
1998 lief Jia Zhang-kes Debütfilm „Xiao Wu“ (Taschendieb) in der Sektion Forum der Berlinale. Seither wurde der in Fenyang (Provinz Shanxi) geborene Filmemacher mit mehreren Dokumentar- und Spielfilmen, in denen er sich mit klugem Blick seiner Heimat zuwendet, international ausgezeichnet: „Still Life“ (2006), „A Touch of Sin“ (2013), „Ash is Purest White“ (2018). Sein jüngstes Werk „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“ (一直游到海水变蓝) spielt ebenfalls in der Heimatregion des Regisseurs und ist als dokumentarische Erzählung angelegt.
In achtzehn Kapiteln werden
Schriftsteller
unterschiedlicher Generationen
mit ihren Geschichten,
Erzählungen und Gedichten vor
dem Hintergrund der
chinesischen
Gegenwartsgeschichte
porträtiert. Neben drei
anerkannten Protagonisten Jia
Pingwa (Jg.1952), Yu Hua (Jg.
1960) und als Jüngste, die
Autorin Liang Hong (Jg. 1973),
sprechen weitere – nicht alle
außerhalb des Landes bekannte
Literaten – über den Einfluss
Chinas jüngerer Geschichte auf
ihre Arbeit und ihr Leben.
Existenzielle Themen wie Essen,
Liebe, Alter, Familie, Trennung
und Heimkehr schaffen
Verbindungen zwischen den
unterschiedlichen politischen
Erfahrungen.
Zu Beginn der dokumentarischen
Erzählung, deren Geschichten
sich wie Perlen auf einer Kette
aneinanderreihen, begegnen wir
den alten Menschen aus Jias
Heimatort. Es ist die Zeit nach
der Gründung der Volksrepublik.
Stumm stehen die Dorfbewohner
an der Essensausgabe, sie
reichen ihre Schalen an die
Helfer und beginnen schweigend
zu essen. Es ist der
Schriftsteller und Funktionär
Ma Feng, der von dem dörflichen
Leben nach dem Krieg erzählt.
Bei ihm ist es die Zeit des
Neuanfangs, der Solidarität und
des Einsatzes gegen überkommene
Traditionen. Diese Generation
habe gegen die von Eltern
arrangierten Ehen gekämpft und
sich gemeinsam mit einfachsten
Mitteln für sauberes Wasser
eingesetzt. Mas positiven Blick
durchbricht der Autor Jia
Pingwa, dessen Leben von
politischen Kampagnen und den
Folgen der Kulturrevolution
bestimmt wurde. Es ist
überraschend, wie offen der
Autor über diese Zeit
berichtet, eine Zeit, die in
China bis heute selten
öffentlich so mutig kritisiert
wird. Seine Geschichte beginnt
mit dem Vater, der durch einen
absurden Zufall zum
Konterrevolutionär abgestempelt
wurde. Es folgten Inhaftierung,
zehn Jahre Arbeitslager und
Bestrafung der gesamten
Familie. Nach der üblichen
Landverschickung konnte Jia
Pingwa erst 1978 seine
literarische Arbeit als Dichter
aufnehmen. Verlorene Zeit.
Der nur wenige Jahre später
geborene Autor Yu Hua hat seine
Erfahrungen der KR in mehreren
literarischen Werken
verarbeiten können. Nach fünf
Jahren, in denen er als
Zahnarzt tätig war, erschien
sein erster Roman 1991 in der
Zeitschrift Shouhuo. „Leben!“
wurde von Zhang Yimou verfilmt
und trug damit zur weltweiten
Anerkennung des Autors bei.
Wie sich der gesellschaftliche
Wandel vom Neuanfang, über die
Kulturrevolution bis zur
Reformpolitik auf die Literatur
auswirkt, zeigte sehr bewegend
das letzte Porträt. Liang Hong,
die 1997 an der Universität in
Zhengzhou ihren Abschluss
machte, musste den Rückblick
auf ihr Leben während des
Interviews immer wieder
unterbrechen. Die Erinnerungen
an ihre Kindheit und Jugend, an
ihre Mutter und das Schicksal
der gesamten Familie ließen
lang verdrängte Emotionen
hervorbrechen. Im Gegensatz zu
den älteren Schriftstellern
gilt Liang als Vertreterin der
sogenannten dörflichen
Literatur. In ihren
Erzählungen, jenseits der
urbanen Zentren, widmet sie
sich der ländlichen
Lebenswirklichkeit, ihrer
Eltern und Familien. In dem
sehr persönlichen Gespräch
wurde deutlich: Das Leben
dieser Menschen gleicht dem
Hinausschwimmen auf das weite
Blau des Meeres. Obwohl Jia
Zhang-kes Filmerzählung durch
die Betonung heller Lichtblicke
bestimmt wird, fehlt seinem
jüngsten Werk ein klares
übergeordnetes Konzept. So
hinterlässt der Film einen
insgesamt allzu
zusammengewürfelten
Eindruck.
Grenzüberschreitungen
Neben Jia Zhang-ke vertrat der junge Filmemacher Meng Huo (Jg. 1984) mit seinen Film „Crossing the Border“ (Guo Zhao Guan 过赵关) auf der Berlinale eine neue Generation chinesischer Regisseure. Sein erster langer Spielfilm aus dem Jahr 2018 ist eine liebenswerte Hommage an seinen Großvater. Der Film gleicht Erinnerungen wie in alten Volksliedern. Erzählt wird von dem siebenjährigen Ning Ning (Yunhu Li). Der muss die Sommerferien bei seinem Großvater Li Fuchang (Yang Taiyi) auf dem Land verbringen, weil seine Mutter täglich die Geburt eines zweiten Kindes erwartet und der Vater keine Zeit für den Jungen hat.
Über das dörfliche
Landleben, ohne seine Freunde
und die üblichen
Chatmöglichkeiten und
Gamespiele, ist der Enkelsohn
nicht gerade begeistert. Doch
kurz darauf beginnt für Ning
Ning eine aufregende Zeit. Der
Großvater beschließt einen
alten Freund, der nach einem
schweren Schlaganfall tausende
Kilometer entfernt im
Krankenhaus liegt, zu besuchen.
Im Stil eines klassischen Road
Movies begeben sich die beiden
auf einem kaum fahrtüchtigen
Motorgefährt auf die Reise. Auf
der Fahrt begegnen sie einem
einsamen jungen Mann, der für
sich keine Zukunft sieht, einem
Fernfahrer, der mit seinem Lkw
mit einer Panne am Rand der
Straße gestrandet ist und einem
alten Mann, der seine Ruhe und
Gelassenheit als Imker gefunden
hat. Bei all diesen Begegnungen
lernt der Enkelsohn etwas über
den Umgang als Mensch mit den
Ambivalenzen des Lebens. Auf
ihrem Weg zu dem schwerkranken
Freund geht es in den
Gesprächen des Großvaters um
Erinnerungen an frühere Zeiten
und um das, was nach dem Tod
bleibt. Im Gegensatz zu den
engen Lebensvorstellungen und
scheinbar geregelten Alltag
seines Vaters erlebt Ning Ning
mit dem eigenwilligen
Großvater, der sich auch vor
Grenzüberschreitungen nicht
scheut, von der Fülle möglicher
Lebenskonzepte.
Der Regisseur hat „Guo Zhao
Guan“ dem Leben seines
taubstummen Großvaters
gewidmet, der nie mehr als zehn
Kilometer von seinem Heimatort
entfernt war und dennoch so
viel vom Leben und vom Tod
verstanden hat. Sein Film
erzählt in klaren, poetischen
Bildern vom Alltag eines
ländlichen China, das meist
vergessen wird. Meng Huo
versteht seine Filmarbeit in
der Tradition des Kinos und als
Kunst der Erinnerung, die all
denen eine Stimme gibt, die
keine Stimme haben. Ihm ist ein
zutiefst humanes Werk
gelungen.
Dagmar Yu-Dembski