Rezension: Wolken über Taiwan

Taiwan, die Ukraine von morgen?

Verbringst Du irgendwo eine Woche, schreibst Du einen Artikel. Bleibst Du einen Monat, verfasst Du einen Aufsatz. Bleibst Du ein Jahr, veröffentlichst Du nichts mehr: Die Fragestellungen werden komplexer, die Antworten komplizierter. Die in der Schweiz lebende Sinologin und Autorin Alice Grünfelder verbrachte 2020 ein halbes Jahr auf der „Ilha Formosa“ (Der schönen Insel), wie sie die Portugiesen im 16. Jahrhundert nach ihrer Entdeckung nannten. Nun legt sie ein klug gestaltetes Buch mit dem aussagestarken Titel „Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“ vor.

1886 erhält Taiwan den Status einer Provinz Chinas – und das genau ist der Fakt, auf den sich die Übernahmephantasien eines Xi Jinping in unseren kriegslüsternen Zeiten berufen. Der kleine Inselstaat im Pazifischen Ozean, hierzulande vor allem als führender Chiphersteller bekannt, steht schon sehr lange auf der „Wunschliste der Wiedervereinigung mit dem übermächtigen Mutterland China“. Für Insider ist es wohl nur eine Frage der Zeit, dass China die Entwicklung des gegenwärtigen Überfallkriegs in Europa genau observiert, um in einen günstigen Augenblick die Insel ins gigantische Mutterland „einzuverleiben“: Taiwan könnte zur Ukraine von morgen werden.

Durch den durchgesetzten Alleinvertretungsanspruch Chinas tritt Taiwan 1971 aus der UNO aus. In den 1980er-Jahren nimmt ein unaufhaltsamer Demokratisierungsprozess Fahrt auf, der der Volksrepublik China seit jeher ein Dorn im Auge ist. im Jahr 2000 wird die 50-jährige Herrschaft der chinesischen Kuomintang (KMT) beendet; seit 2016 regiert Tsai Ing-wen als erste Präsidentin den Inselstaat.

Wie soll frau schreiben über ein Land, das es also offiziell gar nicht gibt? Als Kennerin der Gesamtsituation wendet Alice Grünfelder einen klugen Kunstgriff an, der zunächst überrascht, doch der Realität erstaunlich gerecht wird. Sie veröffentlicht kein Geschichtsbuch und keinen Roman. Anhand von hundert alphabetisch angeordneten Stichpunkten fängt sie mit großen und kleinen Beobachtungen sowie Interviews (vor allem mit Frauen) Leben und Alltag des Inselreiches so facettenreich ein, dass die Informationen selbst in der Ferne Europas zu einem informativen Leseerlebnis werden. Erstaunlicherweise fängt das Panorama mit „Abschied“ an; über Bedrohung, Corona, Erdbeben, Gleichberechtigung, Jiaozi, Karaoke, Meer, Obdachlose, Qigong, Shilin, Tee geht es zu Trostfrauen, Weißer Terror, 2-28, und vieles mehr.

Die gut recherchierten, prägnant beschriebenen, manchmal auch sinnlich-verträumten Betrachtungen ergeben einen interessanten Einblick in die Gesamtsituation des Landes. So erinnert 2-28 an den 28. Februar 1947, als ein Generalstreik gegen die Gräueltaten der chinesischen Militärregierung das Land ins Chaos stürzte; das ausgerufene Kriegsrecht sollte bis 1987 anhalten. Neben solch tragisch-gewichtigen Ereignissen sind es vor allem alltägliche Zufälligkeiten, wie z. B. Radeln in der fahrradfreundlichsten Stadt Asiens, Taipei, oder eine „suchende Schildkröte“, die Stimmungen gekonnt einfangen und dem ganzen „gelebte Leben“ einhauchen.

Ganz besonderes Interesse verdient das Kapitel “Bedrohung“. 12 Frauen wurden hierzu befragt: Was können sie tun? Einige denken ans Auswandern, andere finden sich mit den Katastrophenwarnungen ab; das Militär – der chinesischen Dominanz durchaus bewusst – ist nur sehr begrenzt einsetzbar. Ob auf die Hilfe durch die USA gebaut werden kann, weiß niemand. „Sorge Dich nicht, es geht uns gut, es ist wie immer, früher war es einmal schlimmer“. Dieser Refrain wirkt auch auf die Autorin nicht wirklich beruhigend: „Ich habe keine Angst, weil mir schon früh klar war, dass man als einzelne Person nur wenig ausrichten kann“.

Weit entfernt vom Genre eines Nachschlagewerkes setzt bei der Lektüre der meist kurz gehaltenen Episoden – die ganz unabhängig voneinander gelesen werden können – fast ganz unbemerkt ein Lernprozess mit Erkenntnisgewinn ein, so dass sich durchaus ein flächendeckendes Puzzle des Inseldaseins ergibt. Wohl überlegt, informativ und hilfreich sind auch die im Anhang aufgeführte Geschichtschronik sowie die Zusammenstellung der verfügbaren Literatur zu Taiwan.

„Würden Sie sich noch ein Haus bauen“? fragt die Autorin an einer Stelle ihre Gesprächspartnerin. „Nein, wir müssen jeden Tag mit allem rechnen; bisher waren es Taifune, Überschwemmungen und Erdbeben, nun kommen noch die immer bedrohlicher werdenden Ankündigungen der Annexion durch China dazu“.

Angeregt durch die Lektüre verspüre ich – allen Widrigkeiten zum Trotz – große Lust, die weite Reise nach Taiwan anzutreten. Ich will nicht wieder zu spät kommen. Vor drei Jahren wollte ich meinen Plan realisieren, mit dem Zug nach Odessa zu fahren. Damals machte die Coronapandemie einen Strich durch die Rechnung. Und nun habe ich Angst, dass ich aufgrund der schrecklichen Kriegssituation in der Ukraine auch nicht mehr nach Taiwan komme – Anfang der 80er-Jahre war ich bereits dort –, also bevor der lauernde chinesische Drache die Insel verschlingt. Im Zeitalter grausamer Autokraten, denen jegliche demokratische Entwicklung als Bedrohung erscheint, die es zu vernichten gilt, schrumpft die kurzzeitig globalisierte Welt rapide zusammen. Alice Grünfelder schreibt mit „Wolken über Taiwan“ bewundernswert dagegen an.

Anna Gerstlacher

Alice Grünfelder: Wolken über Taiwan

Wolken über Taiwan – Notizen aus einem bedrohten Land
Alice Grünfelder
Rotpunktverlag (2022)
260 Seiten, 28,00 €