Rezension: Sehnsucht nach Shanghai

Eine Liebe in Shanghai –
Luo Lingyuan: Sehnsucht nach Shanghai

Als Emily Hahn 1935 chinesischen Boden betritt, will sie eigentlich nur zwei Wochen bleiben. Sie möchte am liebsten das nächste Schiff besteigen und in ihr geliebtes Afrika fahren. Doch Shanghai verzaubert sie. Diese Stadt passt zu ihr. Mickey, wie sie von ihrer Familie und den Freunden genannt wird, liebt das ungebundene, aufregende Leben. Bereits als junge Frau hat sie gegen Konventionen rebelliert. In China wird die hübsche Amerikanerin, die sich mit ihren Reportagen für den „New Yorker“ einen Namen gemacht hat, eine leidenschaftliche Affäre mit einem kultivierten Chinesen aus bester Familie beginnen.

Mit dem Roman „Sehnsucht nach Shanghai“ lässt uns die Autorin Luo Lingyuan an dieser aufregenden Liebesbeziehung zwischen der selbstbewussten Emily Hahn und dem traditionellen chinesischen Intellektuellen Zao Sinmay teilnehmen. Luo, die ihre Jugend in Shanghai verbracht hat, lebt seit 1990 in Berlin. Sie hat seither erfolgreich mehrere auf Deutsch geschriebene Romane und Erzählungen (u. a. „Die chinesische Delegation“, „Die Sterne von Shenzhen“) veröffentlicht. Es war daher eine gute Entscheidung der Edition Ebersbach & Simon, Emily Hahns Liebes- und Lebensgeschichte in der Form eines Roman lebendig werden zu lassen.

Luo hat für ihr Buch auf eine Fülle von Originaldokumenten und ins Chinesisch übersetzte Texte zurückgreifen können. Mit Einfühlungsvermögen und der Lust am Fabulieren ist ihr ein eindrucksvoller Blick in die Gefühlswelt der Protagonistin gelungen. Frei von allzu einengenden Vorgaben klassischer Biografien konnte Luo erzählerische Schwerpunkte setzen, individuelle Charaktermerkmale hervorheben und den Akzent auf die leidenschaftliche Liebesbeziehung setzen.

Es sind vor allem die Dialoge, die dem Roman seine authentische Atmosphäre liefern. Gekonnt hat Luo die Chance erzählerischer Freiheit genutzt, um die widersprüchliche Gefühlswelt ihrer Protagonistin zu illustrieren. Auf diese Weise ist ihr ein Porträt gelungen, das neben einer unkonventionellen Liebe den Blick auf die politische Situation der Stadt und ihre Einwohner lenkt.

Der Roman erzählt noch mehr. Wie Emily Hahn mit Hilfe ihres chinesischen Geliebten ein literarischer Coup gelingt: das Buch über die drei Soong-Schwestern, Chinas führenden Persönlichkeiten der Nationalpartei. Mit dem Bericht über die langwierige Arbeit am Buch und dem monatelangen Aufenthalt in Chongqing während des japanischen Kriegseinfalls geht „Sehnsucht nach Shanghai“ weit über die Schilderung einer Liebesstory hinaus. Luo ist es gelungen, in der Figur Emily Hahns eine moderne, selbstbewusste Frau zu zeichnen, die in politisch schwieriger Zeit allen Unwägbarkeiten des Lebens trotzt. Das ist vermutlich der Grund, weshalb ihre Lebensgeschichte auch ein heutiges Lesepublikum zu faszinieren vermag.

Dagmar Yu-Dembski

Luo Lingyuan: Sehnsucht nach Shanghai
Ebersbach & Simon (2021)
320 Seiten, 24,00 €