Rezension: Eine Sekunde

Zhang Yimou: „Eine Sekunde“

Auf der 69. Berlinale 2019, der letzten unter der Leitung des langjährigen Direktors Dieter Kosslick, war für den letzten Tag des Festivals „Eine Sekunde“ (Yi miao zhong 一 秒 钟) angekündigt. Titel, Plakat und Inhaltsangabe lagen bereits vor. Dann wurde der Beitrag des chinesischen Filmregisseurs Zhang Yimou kurzfristig abgesagt. Die offizielle Begründung lautete: Probleme mit der Postproduktion. Inzwischen sind mehr als zwei Jahre vergangen und nach einer Preview am Sonntag, dem 16. Juli 2022 ist der Film nun in einigen Berliner Kinos zu sehen. Wer weiß, wie lange noch?

Zhangs jüngster Film (2020) erzählt von der Faszination des Kinos und der politischen Bedeutung seiner Bilder. Er spielt zur Zeit der Kulturrevolution, in China offiziell als die zehn Jahre des Chaos bezeichnet, und basiert auf einer Episode des Romans „The Criminal Lu Yanshi“ von Yan Geling. Bereits einige Jahre zuvor hatte ihre Erzählung für den Film „Coming Home“ (2014 mit Gong Li) die Basis ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit gebildet. Nun ist in der jetzigen Filmfassung der Hinweis auf Yan als Drehbuchautorin aus den Credits gestrichen worden. Nach Zensurvorwürfen und Protesten verweist die Leitung der Yorck-Kinos in einem eigenen Vorspann auf den Beitrag am Drehbuch der in Berlin lebenden Autorin.

Zensureingriffe und Änderungen waren zu erwarten. Schließlich spielt der Film in einer brisanten Zeit. Ein Häftling (Yi Zhang), der aus einem Umerziehungslager nördlich der Wüste Gobi geflohen ist, ist auf der Suche nach einer kurzen Sequenz einer Wochenschau. Dort soll vielleicht seine Tochter zu sehen sein. Genau auf diese Filmrolle hat es auch ein umherziehendes Waisenmädchen (Liu Haocun) abgesehen. Sie braucht den Zelluloidstreifen, um für den jüngeren Bruder einen Lampenschirm zu basteln. Doch bei ihrer Ankunft in dem entlegenen Wüstenort sind die Filmrollen bereits auf dem Weg in die nächste Ortschaft, wo die Dorfbewohner auf die Vorführung warten.

Zwischen den beiden ungleichen Protagonisten beginnt nun ein bizarrer Wettkampf um eine dieser Filmrollen. Unterwegs auf Schotterwegen und steinigen Endlosstraßen entwickelt sich zwischen dem hartgesottenen Häftling und dem gewitzten Waisenmädchen eine Auseinandersetzung, die sie letztlich nur gemeinsam gewinnen können. Als sie schließlich in dem nächsten Ort der Vorführung ankommen, liegen die Filmrollen verschmutzt und in verheddertem Durcheinander auf der Dorfstraße. Der örtliche Parteifunktionär Fan hat jedoch den parteipolitischen Auftrag, den Dörflern den revolutionären Hauptfilm „Heroische Söhne und Töchter“ vorzuführen, zu dem die aktuelle Wochenschau die politische Einordnung liefert. Daher ruft er zu einer kollektiven Aktion aller Frauen und Männer des Dorfes auf, an der sich auch die beiden Protagonisten aus unterschiedlichem Interesse beteiligen. Die verdreckten und in sich verschlungenen Zelluloidstreifen werden vorsichtig gereinigt, entwirrt und durch sanftes Fächerwedeln getrocknet. Mit der gemeinsamen kollektiven Anstrengung gelingt es Fan, dem lokalen Politfunktionär und fanatischen Filmvorführer, den revolutionären Streifen und die kurze Sequenz der Wochenschau zu retten.

Zhang Yimou ist mit „Eine Sekunde“ nach seinen Ausflügen in die Blockbuster-Welt der Martial Arts wieder zurückgekehrt zu seinen filmischen Anfängen. In seinen frühen Werken (Das rote Kornfeld) hatte er sich auch als Kameramann (Gelbe Erde) mit farbgewaltigen Bildern als Begründer des modernen chinesischen Kinos profiliert. In „Eine Sekunde“ folgt die Kamera nun dem Wind und Staub des gelben Wüstensands. Es sind Geschichten der einfachen Menschen im ländlichen China, die in politisch wirren Zeiten zu überleben versuchen. Kein Wunder, dass sein Film, der von der Macht der Bilder und dem trotzigen Widerstand seiner ländlichen Bewohner erzählt, nicht ohne Auflagen gezeigt werden konnte. Angeblich geht es um eine Minute, die geändert wurde. Vielleicht lediglich um eine Sequenz von 60 Sekunden. Trotzdem: unbedingt ansehen!

Dagmar Yu-Dembski

Ab 16. September 2022 soll der Film auf dem Filmportal des Verleihs Mubi zu sehen sein. Im Moment noch in einigen Berliner Kinos der Yorck-Gruppe.