Rezension: Das Stadttor geht auf

Eine Rückkehr in die Zeit der Kindheit

Bei Daos Erinnerungen an seine Kindheit beginnen im Sommer, den er das Reich der Grillen und Zikaden nennt. Für ihn ist es die Zeit, die seine Träume kreisen ließ. Der 1949 geborene Dichter, einer der bedeutendsten Autoren der chinesischen Gegenwartsliteratur, nimmt uns in „Das Stadttor geht auf“ ein Stück des Wegs mit in die Kindheit seiner Heimatstadt Peking.

Nach 13 Jahren im Exil in Europa und den USA erhält der Heimatlose im Jahr 2001 für einige Monate die Erlaubnis, in die Stadt seiner Kindheit heimzukehren. Um den todkranken Vater noch einmal zu besuchen. Daher lässt Bei Dao sein Buch mit einer persönlichen Erinnerung an „Mein Peking“ beginnen. Es ist ein Peking, das es längst nicht mehr gibt, und das er aus seiner Vergangenheit wieder hervorholt, indem er die Zeit rückwärts laufen lässt. Für all die einsamen Seelen, die kein Heim mehr haben, öffnet der Dichter das Stadttor weit auf und lädt uns ein, gemeinsam mit ihm in die Wirnisse des Lebens der 1950er- und 60er-Jahre einzutauchen.

Sein Kindheitsblick auf verlorene Zeiten ist keine nostalgische Rückschau, eher ein Kaleidoskop voller blitzender Farben, von Hell und Dunkel, vom Wechsel von Licht und Schatten. In jeder Episode entwirft Bei Dao eine Welt voller sinnlicher Erfahrungen, von Klängen und Gerüchen, von jugendlichen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Schilderungen einer Kindheit in Peking lassen durch Bei Daos Liebe zur Sprache und seine Feinheit der Beobachtung eine Zeit gesellschaftlicher Realität entstehen, die vom Aufbruch aus der Kindheit und dem Suchen nach einem selbstbestimmten Leben erzählt. Seine bildreichen Geschichten erzählen von pubertärem Übermut und überbordenden Hoffnungen.

Stets schwingen die politisch schwierigen Zeiten mit. Sie prägen das ambivalente Verhältnis zu dem geliebten, Vater. Bei Dao scheut sich nicht, die eigenen politischen Irrwege aufzuzeigen. Wenn er von den immer neuen Kampagnen erzählt, dem Kampf zur Ausrottung der Spatzen, von der Faszination der Kunst, vom Entdecken verbotener Bücher und Schallplatten oder sich vom viel zu hohen Sprungturm ins Wasser stürzt, um den Mädchen zu imponieren. Vom Dahintreiben beim Schwimmen, Atemanhalten in der Waschschüssel und von dort zum Schwimmbad und dem Wellengang im Wasser des Sommerpalasts.

Es ist eine Zeit, in der seine Liebe zu Kultur entsteht. Wenn er beschreibt, wie er das Kino für sich entdeckt, die kurze Phase der Dunkelheit, ehe der Film beginnt, die seine Assoziationen und Erwartungen entstehen lässt, von den Unterbrechungen, wenn der Film mal reißt und dem Geräusch beim Zurückspulen des Zelluloids. Es sind diese Geschichten, die Bei Dao mit einer wunderbaren Leichtigkeit in poetische Bilder verwandelt. (Und natürlich in gewohnt großartiger Übertragung von Wolfgang Kubin.)

Wer selbst eine Zeit lang in Peking (auch in China) verbracht hat, wird sich an das morgendliche Fahrradklingeln erinnern, an den Geruch von trocknendem Chinakohl im Herbst und dem drückenden Smog der Kohleöfen im Winter. Nur dass Bei Dao dies alles in seiner einmaligen Bildsprache viel besser zum Leben erweckt. Oder, um es mit dem 1988 in Saigon geborenen Ocean Vuong zu sagen, Bei Daos Leben und Werk sind „der Inbegriff der Dichtung: zeitlos schimmernd.“ Statt einer Besprechung des Werks möchte ich es lieber mit seinen Worten empfehlen: „So öffne ich denn das Stadttor und heiße … die einsamen Seelen willkommen, die kein Heim mehr haben, heiße alle neugierigen Reisenden willkommen.“

Dagmar Yu-Dembski

Bei Dao: Das Stadttor geht auf

Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking
Bei Dao
Hanser Verlag (2021)
336 Seiten, 25,00 €