Das unruhige Asien: Reise durch Indien – China – Japan
Arthur Holitscher
Boer Verlag (2023)
312 Seiten, 38,00 €
Textauszug
Eines Tages, gegen Ende des achten Monates meiner Reise, stehe ich wieder, nun das viertemal schon in meinem Leben, auf dem Roten Platz zu Füßen der Kremlmauer im alten heiligen Moskau. Es ist ein frostiger, von Eis klirrender Aprilnachmittag. Tausend Menschen reihen sich im Zug von der Basilius-Kathedrale an, stapfen langsam vorwärts, einem viereckigen, niederen, dunkelroten Holzbau zu, der bei der Mauer errichtet ist, nicht weit von dem Tor, das die alte Kapelle der Iberischen Mutter Gottes zwischen ihren Bogen trägt. Am Fuße der Kremlmauer, dort, wo die Gräber der Revolutionshelden unter dem Schnee verschwinden, birgt das rote Holzmausoleum den Sarg und den Körper Lenins. Langsam bewegt sich der Zug dem Mausoleum zu. Es dauert lange, bis wir den Eingang erreicht haben. Zwischen einem Spalier stummer Rotgardisten steigen wir langsam die Stufen zum Grabgewölbe hinab. Es sind viele Stufen, denn der Raum mit Lenins Leichnam liegt tief unter dem Straßenniveau. – Als dieses Mausoleum gebaut wurde, hat der Verkehr der Straße tagelang gestockt. Man mußte die wichtigste Trambahnlinie, die die beiden Ufer der Moskwa miteinander verbindet, verlegen, denn das Mausoleum wurde mitten auf die Trambahnstrecke gestellt. Der Verkehr, das symbolische Leben der uralten Stadt, des weiten heiligen Reiches stockte, der Herzschlag, der Puls stockte, wie der Verkehr der Stadt. Tag und Nacht ritten, auf schwarzen Rossen, in stürmischem Galopp, Reiter der Roten Armee unaufhörlich um dieses Mausoleum herum. Ritten, ritten, ritten Tag und Nacht, in nie aufhörendem Galopp, schwarz und schweigend, um den dunkelroten Holzbau, der den Leichnam des toten Führers in der Tiefe birgt. [Textauszug]
Der Text des Neusatzes folgt der Ausgabe 1926, erschienen im S. Fischer Verlag Berlin.