Berlinale 2022

Berlinale 2022: Eine Hommage an den Kinofilm

Eigentlich hatte ich vor, eine Besprechung des chinesischen Films „Return of Dust“ (Yin ru chen yan), der im Wettbewerb der Berlinale 2022 lief, zu schreiben. Doch die Geschichte des Scheiterns, eine Kinokarte zu kaufen, ist mindestens so lang wie der Film (131 Minuten) von Li Ruijun. Um es kurz zu machen: In diesem Jahr konnten Tickets für die Berlinale-Beiträge nur online gekauft werden, jeweils zwei Stück pro Person und immer ab Punkt zehn Uhr morgens. Bereits gefühlte eine Minute später meldete das Programm „ausverkauft“. War ich zumindest zu dem Punkt von zwei Kinokarten gelangt, fehlte mir das Passwort für den Online-Organisator . Mit dem Hinweis auf „Neukunde“ erfuhr ich, dass ich bereits Kundin des Dienstes gewesen sei. Wann nur?

Es gab aber noch die Chance auf „Passwort vergessen“, das ich auf diesem Weg über meinen E-Mail-Account erhalten könne. Inzwischen waren die Karten für den erwünschten Film bereits „ausverkauft“. Neuer Anlauf am nächsten Tag. Neues Passwort eingeben, mindestens acht Zeichen, davon Groß- und Kleinschreibung, Sonderzeichen, Zahlen. Alles gut. Kreditkartenangabe erfolgt. Zur Sicherheit nur noch das Passwort der Bank. Habe ich nicht, da kein Onlinebanking. Versuche, über eine der teilnehmenden Kinokassen oder die klassischen Theaterkassen, nicht möglich. Was bleibt? „Fragen Sie doch Freunde, die für Sie buchen können!“ Chinesische Freunde raten mir von einem Kinobesuch in Corona-Zeit eher ab. Na ja, sie helfen natürlich. Nur waren die letzten Termine für die beiden erwünschten Filme zeitlich so dicht (Beginn: 15 Uhr, Beginn 17 Uhr), dass ich mich entscheiden musste. Also endlich zwei Karten im Berlinale Palast. Danke, meine Freunde!

So Seoul ga ui yeong hwa – The Novelist’s Film

Movie: The Novelist’s Film

Dieser Film, den ich im Berlinale-Palast vom 1. Rang aus sehen konnte, hat mich mit der Berlinale wieder versöhnt. Als der koreanische Wettbewerbsbeitrag über die gesamte Breite der Leinwand erscheint, verstehe ich, warum Film das Kino braucht. Der koreanische Regisseur Hong Sang-soo erzählt seine Geschichte im klassischen Schwarz-Weiß. Sie beginnt an einem kleinen Buchladen in einer ruhigen Gegend, irgendwo in Seoul außerhalb des Zentrums. Ehe die Schriftstellerin Junhee hineingeht, sind drinnen zwei Frauenstimmen zu hören. Sie scheinen zu streiten. Es bleibt unklar, um was es geht. Doch die Stimmen hinter der Ladentür setzen Bildergeschichten in Gang.

Aus der Tür tritt die Besitzerin des Ladens heraus. Sie hat ihre Freundin Junhee lange nicht gesehen. Hinter dem freundlichen Small Talk bleibt unklar, was der Grund des langen Schweigens war. Während Junhee (Lee Hyeyoung) eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist, hat ihre Freundin das Schreiben aufgegeben und den Laden eröffnet. Während das Gespräch merkwürdig stockend vorangeht, lassen Mimik und Gestik hinter dem belanglosen Geplauder ein Zerwürfnis ahnen.

Junhee will ihre alte Gegend wieder besuchen. Auf dem Weg trifft sie die Frau eines bekannten Regisseurs. Auch bei der zufälligen Begegnung mit ihm verbirgt sich ein kaum verhohlener Konflikt. Er hatte vor einiger Zeit ein Drehbuch von Junhee abgelehnt. Nun sucht er nach Erklärungen: der Produzent, der Erfolgsdruck als Filmemacher… Während der Regisseur sich immer mehr in seinen Entschuldigungen verstrickt, begegnen sie beim Weitergehen im Park der jungen Schauspielerin Kilsoo, die sich seit einiger Zeit ganz aus der Welt des Films zurückgezogen hat; der zunehmenden Vereinnahmung als Darstellerin und der Kommerzialisierung des Kinos.

Beide Frauen verstehen sich ohne viele Worte. Sie vertrauen sich ihre Geheimnisse an, und Junhee plant gemeinsam mit ihr einen Film. Nichts Dokumentarisches, einen Film, der sich erst noch entwickeln muss: über die Schönheit des Lebens. Frei vom Druck filmischer Kunsterwartungen.

Vielleicht denkt Junhee dabei an die Filmstudentin, die im Buchladen als Aushilfe arbeitet, von der sie sich die Gebärdensprache zeigen lässt. Auch das Kino verwandelt Sprache in Bilder. Der Kurzfilm, der tatsächlich entsteht, hat die Schriftstellerin von ihren Schreibblockaden befreit und Kilsoo (Kim Minhee) wieder der Welt des Films nahegebracht. Das Wunder filmischer Bilderwelt, das im letzten Bild auf der Leinwand erscheint, wird übrigens nicht verraten.

Mit „The Novelists Film“ ist dem koreanischen Regisseur Hong Sang-soo ein Film über zufällige Begegnungen und die Schönheit des realen Lebens gelungen, der zu Recht mit dem Silbernen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Auf dem Weg mit den anderen Kinobesuchern die Treppen des Berlinale-Palastes hinunter, ist es wie in all den Jahren der Berlinale. Gedankenverloren hängen wir den Bildern nach, während wir aus dem Kino schlendern und beginnen, die Geschichten zu ordnen.

Vor dem Eingang wartet bereits eine lange Schlange von Besuchern auf den nächsten Film. Wer hat eigentlich behauptet, wie gut es sei, in diesen Zeiten nicht für Tickets anstehen zu müssen? Manchmal reicht es, nur einen einzigen Film zu sehen. Ein Film in Originalsprache mit Untertiteln in Englisch und Deutsch, der zwar ausgezeichnet wurde, der aber leider bei uns wohl nicht im Kino zu sehen sein wird.

In der Hitze der Nacht „Are you loneseome tonight?“

Movie: Are you lonesome tonight?

Es ist Zufall, ein unglücklicher Zufall. Xueming ist auf dem Weg ins Kino. Seine Freundin hat Tickets besorgt. Wenn er wieder mal zu spät kommt, wird sie seine Karte zurückgeben. Und nun hockt mitten auf der Straße ein stures Rindvieh, das sich keinen Zentimeter fortbewegt. Der Fahrer muss voran machen. Widerwillig nimmt er einen Umweg, fährt mit seinem Van eine menschenleere Straße am Ufer eines Kanals entlang. Ringsum Dunkelheit und Stille. Undeutlich ist eine Radiostimme aus dem Wagen zu hören. Xueming greift nach einer Zigarette und seinem Feuerzeug. Ein Knall, ein dumpfer Stoß und sein Kopf prallt mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe. Im grellen Licht der Scheinwerfer liegt gekrümmt ein toter Mann auf dem Boden.

So lässt der chinesische Regisseur Wen Shipei seinen Film „Are you loneseome tonight?“ beginnen. Erzählt wird eine Geschichte, die unweigerlich ins Verderben führt. Sie kreist um Schuld, Verbrechen und Verlorenheit. Mit seinem Debütfilm führt uns der Filmemacher in die tropischen Nächte der 1990er-Jahre, nach Südchina an der Grenze zu Hongkong. In der gekonnten Mischung aus amerikanischem Gangsterfilm und düster-rätselhaftem Film noir werden alle Motive des typischen Thrillers miteinander verwoben. Es geht um Raub, Erpressung, Verfolgung, Rache und – die Einsamkeit des Protagonisten.

Wie bei einem unvollständigen Puzzle umkreist Xueming (Eddie Peng) seine Erinnerungen an den Unfall und dessen Folgen. Als er durch Zufall die Witwe (herausragend: die taiwanesische Schauspielerin Sylvia Chang) des Toten trifft, sucht er wie in einer Amour fou ihre Nähe. Mehrmals möchte er seine Schuld eingestehen und hofft auf Vergebung. Die Suche nach der Wahrheit führt ihn immer tiefer in den Dschungel der Stadt, in die urbane Verbrecherwelt mit den undurchsichtigen Etablissements und deren dunkler Geschäftigkeit.

Es ist weniger die Story, die „Are you lonesome tonight?“ trägt. Vielmehr besticht der Film durch seine düstere Bildästhetik, wenn die Kamera Xueming durch endlos scheinende, verdreckte Gänge und verwinkelte Straßen führt, in denen nur die flackernden Neonlichter Verbrecher, Verfolger und Verfolgte als Konturen erkennen lassen. In der flirrenden Hitze des Südens verfließen die Figuren und Charaktere; surreale Bilder überdecken eine widersprüchliche Realität. Zurück bleiben verschwommene Erinnerungsfetzen und ein visuell bestechender Film. (Der Film ist noch in ausgewählten Berliner Kinos zu sehen.)

Dagmar Yu-Dembksi